Schaufenster zur Zukunft

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Im »Urban Innovation Hub« unter der Leitung des KODIS dreht sich alles um Dienstleistungen und Geschäftsmodelle von morgen. Hier, in einem ehemaligen Skaterladen in Heilbronn, soll ein Ort entstehen, an dem Akteurinnen und Akteure aus Bildung, Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam an Innovationen für die Innenstadt von morgen tüfteln können. Den Anfang macht eine Branche, die schwer in Bedrängnis geraten ist: der stationäre Einzelhandel.

An einem grauen Donnerstag im Februar sitzt der Schuhhändler Johannes Nölscher in seinem Büro in der Heilbronner Innenstadt, dort, wo schon sein Vater und sein Großvater Ware bestellten, Löhne zahlten und die Jahre meist mit einem Gewinn abschlossen. Der 38-Jährige runzelt die Stirn, schaut an die Decke und spricht eine Gewissheit aus, die eine Welt ins Wanken bringt. Sein Schuhgeschäft, 700 Quadratmeter Verkaufsfläche, 100 Jahre Tradition, wird in der jetzigen Form nicht mehr lange bestehen können.

Vielleicht werde das aktuelle Geschäftsmodell noch zehn Jahre funktionieren, vielleicht aber auch nur fünf, und wenn es ganz schlecht läuft, dann nur zwei. Und Nölscher ist nicht der einzige Händler mit Sorgen in der Heilbronner Innenstadt. Während der Corona-Pandemie schlossen eine Reihe von großen inhabergeführten Läden. Auch Mode- und Drogerie-Ketten zogen sich zurück.

Wer sich Johannes Nölscher nun als Nostalgiker vorstellt, der von den Zeiten träumt, als die Leute vor dem Laden Schlange standen, liegt falsch. Nölscher hat Betriebswirtschaftslehre studiert und in einer Unternehmensberatung gearbeitet. Jetzt trinkt er einen Schluck Kaffee und sagt: »Mich triggert das. Ich möchte unbedingt herausfinden, wie die neue Art des Handels aussieht.«

Nölscher sammelt Daten über die Besucherfrequenz und die Kaufabschlüsse in seinem Schuhhaus. Er arbeitet mit einem Roboter, der laufend die Preise im Online-Shop anpasst. Er hat die Kinderabteilung verdreifacht, als er merkte, wie wichtig es Eltern ist, dass die Schuhe ihren Kindern passen. Kurz: Johannes Nölscher tut alles dafür, seinen Laden zu retten. Aber den richtigen Weg hat er noch nicht gefunden. Jetzt hofft er, dass der Urban Innovation Hub des Fraunhofer IAO ihm dabei hilft. 

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»Ich möchte unbedingt herausfinden, wie die neue Art des Handels aussieht.« Johannes Nölscher, Unternehmer
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Der Urban Innovation Hub, kurz uih! liegt an der Sülmerstraße im Herzen Heilbronns. Eine lange Sitzbank an der Fensterfront ist vom Vormieter, einem Skateboardladen, geblieben. Vor dieser Bank also steht Lena Ahner Ende Februar und sagt: »Wir wollen Forschung erlebbar machen.« Die 32-jährige Kommunikationswissenschaftlerin vom Fraunhofer IAO leitet den Hub, der vom baden-württembergischen Wirtschaftsministerium und Geldern der Dieter-Schwarz-Stiftung finanziert wird. Noch liegen Fliesen auf dem Boden und Kabel gucken aus den Wänden. Zur Eröffnung, Ende April, soll alles fertig sein.

Für Heilbronn ist das uih! ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur »Wissensstadt«. Unter diesem Titel sollen Wissenschaft und Bildung zu festen Größen des Alltags und der Identität der Stadt werden – von der kostenfreien Kita über zahlreiche Bildungsangebote bis zum Exzellenzcluster. Tragende Säule und zentraler Spielort des Vorhabens ist der Bildungscampus der Dieter Schwarz Stiftung, an dem die Hochschule Heilbronn, die Duale Hochschule Baden-Württemberg, die TU München, das Ferdinand-Steinbeis-Institut, das KODIS des Fraunhofer IAO und viele weitere Bildungs- und Forschungseinrichtungen angesiedelt sind. Mit dem Verein »Wissensstadt« haben sie eine Institution geschaffen, die ihre Angebote in die Stadtgesellschaft tragen. Und mit dem uih! erhält der Bildungscampus nun gar eine Anlaufstelle in der Heilbronner Innenstadt – einen Ort, an dem Forschung gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern erlebbar gemacht werden soll.

In diesem Sinne bietet das uih! Forscherinnen und Forschern eine Plattform, um ihre Arbeit vorzustellen und mit den Heilbronnerinnen und Heilbronnern über Innovationen ins Gespräch zu kommen. Die Tür soll offenstehen und signalisieren: Kommt rein, hier gibt es Forschung zum Anfassen! »Das uih! bringt Menschen zusammen, die dann gemeinsam Innovationen weiterentwickeln«, sagt Benedikt Wohlmuth. Der Handels- und Logistikexperte vom KODIS gehört ebenfalls zum Team des uih!, das eine Plattform des Austauschs und der Zusammenarbeit werden soll, die allen offensteht. Als Ort, an dem sich Wissenschaft und Gesellschaft begegnen, könnte der Hub beispielsweise Studierenden die Möglichkeit geben, Feedback für ihre Projekte zu sammeln. 

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In einem seiner ersten Projekte beschäftigt sich die Einrichtung mit dem stationären Handel. Dafür wird der Ort zu einem Labor, in dem Händlerinnen und Händler digitale Technologie und Innovationen entdecken können, die ihnen helfen können, im Wettbewerb gegen Amazon, Zalando und Co. zu bestehen. Ein Beispiel ist das KI-Kassenband, das selbstständig Produkte erkennt und abrechnet. Oder der Scanner, der Obst und Gemüsesorten zuordnet. Themen wie Mobilität, Smart City, Versorgung und Energie sollen folgen. »Das uih! soll als Teil des Innenstadt-Ökosystems dazu beitragen, Innenstädte nachhaltig zu beleben, indem die Akteure des Ökosystems fit für die Zukunft gemacht werden«, sagt Wohlmuth. Dazu gehört es sicher auch, Debatten zu Innovationsthemen anzustoßen, schließlich stehen viele Fragen im Raum: Ist Künstliche Intelligenz eher eine Chance oder eher eine Bedrohung? Wie kann jeder einzelne diese Technologie für sich nutzen? Und wie können die Händlerinnen und Händler davon profitieren? Wenn es nach den Heilbronner Händlern ginge, können die Innovationen gar nicht praxistauglich genug sein. Denn sie benötigen wegen der hohen Energiekosten und der steigenden Löhne jetzt rasch zusätzliche Erträge, ohne groß zu investieren. Viel Zeit bleibt nicht, um den Einzelhandel zu retten – und in Heilbronn könnte das uih! dafür wichtige Impulse geben. 

Johannes Nölscher hat sein Büro verlassen, ist eine Treppe mit goldfarbenem Geländer hinuntergelaufen und steht im Lager des Kaufhauses. Regal reiht sich an Regal, Schuhkarton an Schuhkarton. Insgesamt lagern 25 000 Paar Schuhe im zweiten Stock des Kaufhauses. Warenwert: etwa eine Million Euro. Schuhe bei den Produzenten bestellen, zwischenlagern und an Endkunden verkaufen: Im Grunde, so Nölscher, habe sich das Geschäftsmodell seit Großvaters Zeiten nicht grundlegend verändert. Was sich verändert hat, ist der Markt: Seit 2014 stellen Amazon und Zalando die Branche auf den Kopf. Gut 40 Prozent der Schuhe werden mittlerweile online verkauft. Auch Nölscher ist online vertreten, aber die gestiegenen Versandkosten und die hohe Retourquote machen das Geschäft für ihn nicht besonders attraktiv. Nölscher geht durch die Regal-Reihen. »25 000 Paar Schuhe sind eine Menge. Aber eigentlich ist es nicht genug«, sagt er. Einen Schuh gebe es mittlerweile in 10 verschiedenen Farben. Wenn er nicht den richtigen vorrätig habe, gehe der Kunde ins Netz und kaufe ihn dort. Doch die Schuhe in allen Varianten im Lager zu haben, sei viel zu teuer. »Das ist alles gebundenes Kapital«, sagt Nölscher.

Hier kommt das uih! ins Spiel, in diesem Fall: als Ort, an dem Netzwerke geknüpft und Kooperationen vorbereitet werden. Und so entwickelt Nölscher auf Initiative des uih! jetzt gemeinsam mit der Hochschule Furtwangen und der DHBW Heilbronn eine App, die einen Schuh in allen verfügbaren Farben anzeigen lassen kann. Augmented Reality heißt die Technologie. Die Kundin hält dann zum Beispiel einen schwarzen Schuh in der Hand, filmt ihn und das Smartphone zeigt den Schuh in blau an. Die Idee ist es herauszufinden, wie eine solche App Mitarbeitende entlasten oder das Shopping-Erlebnis positiv beeinflussen kann, etwa, indem Wartezeiten wegfallen. Denkbar sind theoretisch aber auch neue Ertragsquellen: Wenn eine Kundin einen Schuh kaufen möchte, könnte die Bestellung direkt beim Hersteller eingehen. Nölscher bekäme in diesem Fall für die Vermittlung des Verkaufs eine Provision. 

»Mit der App lässt sich die ganze Sortimentsvielfalt darstellen und das Shopping wird zu einem Erlebnis«, sagt Wohlmuth. Es ist ein Ratschlag, den man immer wieder hört: Einkaufen im stationären Handel sollte ein Erlebnis bieten, das der Online-Handel nicht vorweisen kann. Dann könnte der stationäre Handel bestehen. Ganz nach dem Motto: »Baut eine Welle in den Laden, damit die Leute surfen können.« Zudem wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen, wie die App das Verkaufspersonal entlasten kann. Genau deswegen werde der Prototyp entwickelt und im Einzelhandelsalltag getestet.

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»Das uih! soll dazu beitragen, Innenstädte nachhaltig zu beleben.« Benedikt Wohlmuth, Handels- und Logistikexperte am KODIS des Fraunhofer IAO
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»Wir wollen Forschung erlebbar machen.« Lena Ahner, Leiterin des Urban Innovation Hubs

Zur App passt die Idee, Online-Shops eine kleine Verkaufsfläche im Laden anzubieten. Was sich zunächst widersprüchlich anhört, macht für einige Produkte durchaus Sinn. Denn die Online-Shops erreichen einen großen Teil des Publikums nicht, das bei Nölscher einkauft. Es sind Menschen über 50 Jahren, im Marketingsprech »Best Ager« genannt, die zwar zunehmend, aber noch nicht immer auf Instagram und anderen Plattformen unterwegs sind. Um das Vermietungs-Experiment zu finanzieren, also den Laden im Laden auf den Weg zu bringen, bekommt Nölscher eine Unterstützung vom baden-württembergischen Wirtschaftsministerium. Der Ansatz könnte ein Beispiel für andere Händler sein.

Man könne im stationären Handel noch eine Menge Prozesse optimieren, sagt Benedikt Wohlmuth. Der Wissenschaftler vom KODIS denkt an Prognosemodelle für den Verkauf oder eine möglichst effiziente Gestaltung des Versands. Händler könnten sich auch untereinander mit Ware aushelfen. Doch dafür müssten sie Daten miteinander teilen. »Das ist manchmal schneller gesagt als getan«, sagt Wohlmuth. Gründe gebe es jedenfalls genügend, um miteinander zu kooperieren. Die Innenstadt von Heilbronn konkurriert beim Einkaufen nicht nur mit dem Online-Handel, sondern auch mit Stuttgart oder dem Shoppingcenter »Breuningerland« in Ludwigsburg.

Wie sieht nun die Rettung des Einzelhandels aus? »Die eine Lösung wird es nicht geben«, sagt Lena Ahner. Der uih! könne zeigen, was technologisch möglich ist und die Händlerinnen und Händler müssten dann entscheiden, was zu ihnen passe. Nicht alle Händler seien bei der Digitalisierung so weit wie Johannes Nölscher. Nur wenige erheben Daten zum Kundenverhalten und -nutzen, um die richtigen Entscheidungen für ihr Geschäft zu treffen. Das zu verändern, ist eines der Ziele, die Ahner sich als uih!-Leiterin gesetzt hat. »Ich freue mich auf die Veranstaltungen, die wir hier erleben und die Diskussionen, die wir hier führen werden«, sagt sie.

Und die Zukunft der Heilbronner Innenstadt? »Der Handel wird in Zukunft nicht mehr die Anziehungskraft haben, die er einmal hatte«, sagt Nölscher. Man kann das auch als gesunde Entwicklung betrachten und auf eine Innenstadt mit weniger Konsum und mehr Freiraum hoffen. Wenn man will, dann schrumpfen sich die Innenstädte gerade gesund. Denn die Boomjahre des Handels, die 80er und 90er Jahre, ließen ein riesiges Überangebot entstehen. Allein im Umkreis von 300 Metern gab es drei Kaufhäuser in der Heilbronner Innenstadt.

Restaurants, Cafés und Bars könnten nun einen Teil der Anziehungskraft gutmachen. In der Stadtgalerie, ebenfalls gegenüber von Nölschers Schuhgeschäft, könnte eine Markthalle entstehen, die auch abends noch Leute in die Innenstadt zieht. Doch die Gastronomie reicht nicht aus. Es muss neue Konzepte geben, die Wohnen, Freizeit und Arbeit kombinieren. Nölscher wünscht sich, dass auch die Absolventen vom Bildungscampus einen Teil der Lücke füllen. Junge, smarte Unternehmerinnen und Unternehmer könnten in Zukunft mit ihren Start-ups die Innenstadt bevölkern. Der Urban Innovation Hub wird ihnen dabei helfen. 

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