
Eine Software hilft Unternehmen, neue Märkte zu erobern
Ein KODIS-Forschungsprojekt hilft Unternehmen, neue Geschäftsfelder zu erschließen. Die Software zur Serviceorientierten Wertschöpfung (SOW) weiß, wo es dabei langgehen kann: Mit ihr lässt sich das Angebot möglicher Dienstleistungen simulieren – wodurch Chancen und Risiken sichtbar werden.
Das Heimsheimer Unternehmen cirp kann jetzt auch das originalgetreue Modell einer menschlichen Leber herstellen. »Sie sieht aus wie eine echte Leber«, erklärt Thomas Lück, Leiter des firmeneigenen Forschungsteams. »Sie riecht auch so und fühlt sich so an und lässt sich mit Operationswerkzeugen so bearbeiten.« Zwar funktioniert die Leber aus dem 3D-Drucker nicht wie eine echte Leber, doch sie könnte für Medizinstudierende zu Übungszwecken hilfreich sein – so die Idee. Der zu operierende Tumor im Gewebe wird nämlich gleich mitgedruckt. Und dann müssten Studierende nicht länger mit Schweinelebern hantieren.
cirp ist seit 30 Jahren als Dienstleister im Rapid Prototyping etabliert. Der schnelle Prototypenbau per 3D-Druck ermöglicht es den Auftraggebern, Produktideen und deren Auswirkung auf die weitere Wertschöpfung kostengünstig und schnell zu testen, bevor sie in die Umsetzung gehen. Parallel entwickelt sich der 3D-Druck zunehmend zu einem Produktionsverfahren. Ein Großteil des Umsatzes von cirp kommt von der Automobilbranche im Stuttgarter Raum. »Wir sind die verlängerte Werkbank der Industrie«, sagt Thomas Lück. »Wir produzieren, was die Kunden sich wünschen – ab Stückzahl eins.« Um aber die Abhängigkeit von diesem einen Wirtschaftszweig langfristig zu reduzieren, wollte cirp sich weitere Standbeine aufbauen. »Insbesondere im medizinischen Bereich kamen wir auf viele Anwendungen, denen wir mit unseren Fähigkeiten dienen können«, sagt Lück.
Allerdings sind für die Etablierung neuer Produkte in diesem Sektor ganz andere Dienstleistungen nötig als bei Aufträgen aus der Autoindustrie. Mit dem neuen Horizont tat sich also auch eine Reihe von Fragen auf: Was müsste cirp leisten, um die Produkte zu verkaufen? Was wären die Bedingungen für einen wirtschaftlichen Erfolg? Mit welchen Partnern müsste das Unternehmen gegebenenfalls kooperieren? Und wie ließe sich die Qualität sichern?
In diesem Stadium stieß cirp auf das Forschungs- und Innovationszentrum Kognitive Dienstleistungssysteme KODIS mit dessen Forschungsprojekt »Serviceorientierte Wertschöpfung«. In Kooperation mit dem Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, dem Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) der Universität Stuttgart sowie Partnern aus der Wirtschaft entwickelt KODIS dabei ein formalmathematisches Wertschöpfungsmodell – samt Methoden zur Modellierung und Gestaltung potenziell neuer Services. Dies ermöglicht es, Chancen und Risiken solcher Angebote frühzeitig zu simulieren, wodurch Kosten und Nutzen für alle Beteiligten absehbar werden. Daraus lassen sich fundierte Empfehlungen für vernetzte Geschäftsmodelle und verschiedene Konfigurationen von Wertschöpfung ableiten.
Neben dem Leber-Phantom für Medizinstudierende entwarf das Forschungsteam von cirp Orthesen und Prothesen – also Gliedmaßen stabilisierende oder ersetzende Hilfsmittel. Und es kooperierte mit der niederländischen Embryoforscherin Bernadette de Bakker, die große Datenmengen über menschliche Embryos in verschiedenen Stadien gesammelt hat. »Bisher wird die Entwicklung von Embryos im Mutterleib an anatomischen Modellen erklärt, die weit hinter der Forschung zurückliegen«, sagt Thomas Lück. »Mit den digitalen Daten haben wir über zwei Jahre hinweg Embryomodelle erstellt, die der biologischen Komplexität gerecht werden – vom Nervensystem über Organe bis hin zu Muskeln.« So wurde cirp von der verlängerten Werkbank der Industrie zum Innovationspartner. Der Fall von cirp steht beispielhaft für einen grundsätzlichen Wandel in der Wirtschaft. »Unsere Welt wird im Zuge der Digitalisierung immer komplexer – also müssen Unternehmen individuell immer passfähigere Lösungen anbieten«, erklärt Dr. Jens Neuhüttler, Leiter des Forschungs- und Innovationszentrums KODIS. Während es früher beispielsweise ein bestimmtes Automodell in einer Konfiguration gegeben habe, sei es heute nicht nur in zahlreichen Konfigurationen erhältlich, sondern auch gleich mit digitalen Dienstleistungen wie Streaming oder dem autonomen Fahren verknüpfbar. Anders gesagt: »Die Kunden erwarten, dass die Lösungen zu ihren individuellen Anforderungen passen – und nicht alle davon liegen innerhalb des eigenen Wertschöpfungsbereichs.« Das heißt: mehr Kooperationen und noch mehr Komplexität.
SOW bietet Techniken und Werkzeuge, mit deren Hilfe Organisationen solch komplexe Lösungen entwickeln können. »Die Software kann ein Netzwerk modellieren, in welchem Akteure bestimmte Leistungen erbringen und austauschen«, sagt Jens Neuhüttler. »In einer Simulation können dann verschiedene Varianten des Services getestet werden – bis klar ist, welche für Anbieter und Kunden die beste ist.«
Dr. Jens Neuhüttler, Leiter des KODIS am Fraunhofer IAO
Das sei nicht auf die Wirtschaftlichkeit begrenzt: »Ebenso können wir etwa berechnen, wie nützlich oder nachhaltig eine bestimmte Servicevariante ist«, sagt Neuhüttler. Ein übergeordneter Nutzen an SOW besteht für ihn darin, dass Unternehmen weg vom selbstzentrierten Denken hin zu einem Denken in Netzwerken gelangen – weniger Egoismus, mehr Wir-Bewusstsein.
Den 3D-Druck-Dienstleister cirp hat die Arbeit im Projekt entscheidend weitergebracht. »Der Austausch mit den Partnern hat uns geholfen, die Themen strukturiert anzuschauen«, sagt Thomas Lück. »Wir konnten so etwa die Chancen identifizieren, die mit der Digitalisierung einhergehen.« Gerade auf dem Orthopädiemarkt und im Falle der anatomischen Modelle vollziehe sich ein rasanter Wandel. »So fanden wir heraus, ob wir unter bestimmten Umständen die Richtigen für einen bestimmten Service wären – und ob wir dabei mit anderen Akteuren zusammenarbeiten sollten.« Im Falle des Leber-Phantoms stellte sich zum Beispiel heraus, dass sich die serielle Produktion im Moment nicht lohnt. Zum einen sei das Lebermodell im Vergleich zu den Schweinelebern noch sehr teuer – zum anderen seien mit Universitäten, Sponsoren und medizintechnischen Unternehmen viele Akteure involviert, die in der Summe schwer zu überzeugen seien.
Zugleich konnten die Entwicklerinnen und Entwickler wichtige Lehren aus der Arbeit an der Leber ziehen, von denen sie bei künftigen Projekten profitieren können. So konnte cirp dank SOW bereits weitere Ziele medizinischer Eingriffe identifizieren, von denen sich ein anatomisches Modell produzieren ließe – und für dessen Vermarktung sich ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis sowie eine einfachere Akteursumgebung abzeichnet. Ebenfalls vielversprechend scheint der Orthopädiemarkt: Hier sieht cirp Chancen im Wandel von der handwerklichen Fertigung hin zum 3D-Druck – und sich selbst als Anbieter zusätzlicher Services in Beratung zum Material und zur Individualisierung. Eine Prothese in Pink? Oder futuristisch im Stile eines Cyborgs? Es gibt kaum einen Wunsch, den cirp auf seinem neuen Geschäftsfeld nicht erfüllen könnte.
Auch die anderen Partnerunternehmen haben im Rahmen von SOW gelernt, innovative Angebote auf die Bedürfnisse ihrer Zielgruppe auszurichten. Sibylle Hermann hat sie für das KODIS durch das Forschungsprojekt begleitet. »Mit unseren Ansätzen möchten wir Dienstleistungen so zuschneiden, dass sie die Herausforderungen der Kunden bestmöglich meistern«, sagt sie. Das war auch das Ziel des Murnauer Unternehmens Omobi, das Mobilität on demand anbietet – Busse auf Abruf im ländlichen Raum, wo es keinen regelmäßigen Linienverkehr mehr gibt. Das Angebot ist beliebt zu Anlässen wie Weihnachtsmärkten, Maimärkten und anderen Veranstaltungen, es belebt die Innenstädte und hilft älteren Leuten, mobil zu bleiben. Das Problem: Die Dienstleistung ist teuer für Land und Kommunen. Die Aufgabe im Rahmen von SOW war also, ein Zusatzgeschäft zu generieren, das die Finanzierung sichern könnte.
»Die Software bietet keine Lösung auf Knopfdruck«, sagt Sibylle Hermann. »Der eigentliche Mehrwert liegt in der Arbeit mit dem Modell.« Durch die strukturierte Vorgehensweise werde schnell klar, was wichtig und unwichtig sei – sie öffne den Blick auf Dinge, die man sonst nicht bedenke. Im Falle von Omobi führte die Lösung etwa über die Frage, wem das Angebot außer den Fahrgästen noch nützt oder nützen könnte, wer also ein eigenes Interesse am Bestehen des Services hätte. Die Antwort: Der profitierende Einzelhandel in den Städten könnte zur Finanzierung beitragen, außerdem könnte Omobi Shuttle-Services etwa für Hotels und Campingplätze anbieten.
Sibylle Hermann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am KODIS des Fraunhofer IAO
Wie breit gefächert die möglichen Anwendungen von SOW sind, zeigt auch ein Unternehmen aus der Bau- und Immobilienbranche: DERICHSuKONERTZ aus Aachen bietet Dienstleistungen für den gesamten Lebenszyklus einer Immobilie – zum Beispiel die Bauleitung für Großprojekte. »Basierend auf SOW kann das Unternehmen eine Plattform für das Projektmanagement aufbauen – samt Empfehlungen für die beste Konstellation der Gewerke«, sagt Sibylle Hermann. Die optimal ineinandergreifenden Dienstleistungen verschiedener Anbieter zu ermitteln hilft, Reibereien im Prozess zu vermeiden. SOW kann dabei auch die Komplexität des zeitlichen Verlaufs simulieren: »Im Bau ändern sich die Prioritäten«, sagt Hermann. »Anfangs ist der finanzielle Aspekt oft entscheidend, später im Bau kann zum Beispiel die Zeit zur Priorität werden.«
So könnte SOW bald in verschiedensten Bereichen zum Einsatz kommen und das Portfolio von Unternehmen erweitern. Das Embryomodell der Firma cirp ist übrigens bereit für den Markt – und die damit verbundenen Dienstleistungen sind dank SOW ausgereift. Bald werden die Modelle über einen Onlineshop erhältlich sein.